Fehler oder Stilmittel? Eine Gratwanderung

Die Grundsätze der Fotografie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten drastisch verändert. Was im vorigen Jahrhundert ein Fotofehler war, wird heute bewußt als Stilmittel eingesetzt. Dabei gibt es immer wieder Stilmittel, die für Fotografen gängige Praxis sind, weil sie modern und zeitgemäß sind. Für den Betrachter machen sie aber nicht immer Sinn, bzw. stört er sich sogar daran. Das ist eine Gratwanderung für mich als Fotografin, weil ich abwägen muss und einschätzen, ob meinem Kunden das Stilmittel gefällt oder nicht. Ich höre auch im Familienkreis oft Sätze wie: „da ist ja der Kopf abgeschnitten“ oder „im Hintergrund ist ja alles unscharf“. Die Erwartung an die Fotografie kann eine andere sein, als wir Fotografen sie sehen. In diesem Beitrag möchte ich drei dieser Stilmittel meiner Arbeit vorstellen und kurz ihren Einsatz begründen.

Köpfe „abschneiden“

Natürlich schneidet man bei einem Portrait keine Köpfe AB, sondern höchstens AN. Besonders gern macht man das bei querformatigen Portraits. Ich verweise bei Nachfragen in dieser Richtung gern auf das Fernsehen. Wenn man sich unter diesem Aspekt Sendungen und Filme anschaut, fällt einem schnell auf, dass bei Nahaufnahmen der Personen fast immer der Kopf oben angeschnitten ist. Der Grund ist, dass unser Gehirn das Bild wie selbstverständlich vervollstädigt, also gar nicht darüber nachdenkt, dass oben ein Stück „fehlt“. Die Person im Portrait wird durch dieses Stilmittel aber noch präsenter und scheint dem Betrachter näher zu kommen.

Scharf bedeutet nicht gleich Fokus

Fotografie ist eine Art die Welt zu sehen, im Fokus, gerichtet und nicht generalisiert. Jeder Fotograf hat eine andere Art „zu sehen“, das nennt man dann Stil. Der Bildauschnitt ist dafür ausschlaggebend, aber auch der Fokus, der im Bild auf ein bestimmtes Objekt/Person gelegt wird. Das bedeutet, dass ich etwas im Vordergrund fotografiere, z.B. eine Person und der Hintergrund dabei zurücktritt = unscharf wird. Damit kann ich Gewicht und Bedeutung in Aufnahmen verschieben. Das kann ich genauso in einer Gruppe von Menschen machen – und damit eine bestimmte Person hervorheben. Das imitiert eigentlich nur unser Sehen. Wenn wir eine Situation betrachten und auch erfassen wollen, müssen wir einzelne Objekte oder Personen kurz hervorholen (scharfstellen), um sie bewußt wahrzunehmen. Unser Gehirn ist nicht in der Lage, eine Situation im Ganzen aufzunehmen, es sieht selektiv … wie ein Fotograf.

Fotoeffekte in der Bildbearbeitung

Aber nicht nur beim Fotografieren zeigt sich der Stil eines Fotografen. Seit wir digital fotografieren, sind auf einmal noch ganz andere Effekte möglich, die zu analogen Zeiten mit wesentlich höherem Aufwand und Material verbunden waren. Wir können heute eher unerwüschte Effekte der analogen Fotografie in der Nachbearbeitung hinzufügen, um z.B. einen Vintage-Look zu erzielen. Ich verwende das gerne um Stimmungen zu erzeugen oder zu verstärken. Bei einem 20er Jahre Foto-Shooting kann ich die Fotos wie ein altes abgenutzes Glasbild aussehen lassen. Fotos können verblassen, bestimmte Farbschattierungen annehmen oder einen eine weißen, unregelmäßigen Rand bekommen. Was man früher lieber vermieden hätte, wird heute zum Stil. Da sind die Kreativität nahezu keine Grenzen gesetzt.